Fluchtgrund Atheismus

„Religiös verfolgt im Herkunftsland und in Deutschland. 
Als hätte ich mein Heimatland nicht verlassen!“
Interview mit Buchautor Dr. Peter Rüttgers

 

Das Buch „Religiös verfolgt im Herkunftsland und in Deutschland. 
Als hätte ich mein Heimatland nicht verlassen!“
ist im LIT Verlag erschienen und kostet 16,90 € (als E-Book 11,90€). Es thematisiert Atheismus als Fluchtgrund und lässt säkulare Geflüchtete zu Wort kommen.
Dr. Peter Rüttgers lebt und arbeitet in Duisburg. Er engagiert sich bei der Aktion 3.Welt Saar, Amnesty International und der Säkularen Flüchtlingshilfe. 

Was ist eigentlich ein säkularer Flüchtling? Einfach nur jemand, der nicht glaubt oder bekennt er sich aktiv zu seinem Nicht-Glauben?

Beides kann der Fall sein. Diese Geflüchteten kommen meist aus islamischen Ländern. Sie sind ungläubig, im hier verbreiteten Sprachgebrauch atheistisch. Dies zu formulieren, war ihnen in ihrem Heimatland bei Gefahren für Leib und Leben unmöglich. Sie mussten sich gläubig geben und einen religiösen Hut aufziehen.

Wie viele säkulare Flüchtlinge gibt es?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt in den Aufnahmeeinrichtungen oft einen massiven Druck, sich gläubig zu geben. Wenn die Antwort nach der Religion negativ ausfällt, wird Geflüchteten dies häufig nicht geglaubt. Die unausgesprochene Annahme ist, dass Flüchtlinge religiös zu sein haben und meist muslimisch. In vielen dieser Fälle sind die Übersetzer:innen die Schnittstelle. Wenn man aus einem muslimisch geprägten Land kommt, ist man automatisch auch muslimisch. Diese Zuschreibung geschieht ohne weiteres Hinterfragen. Und in der Tat, in Diktaturen mit einer Einheitsreligion wird sich keiner trauen, zuzugeben, atheistisch zu sein. In den Unterkünften hier herrscht schon mal ein islamisches Regiment und Sittenwächter sind unterwegs. Die Möglichkeit, aus dem eng religiös gesteckten Rahmen zu fallen und „entdeckt“ zu werden, ist schnell gegeben: Mal hält man Ramadan nicht streng genug ein, mal trägt eine Frau kein Kopftuch, mal betet jemand nicht fünfmal am Tag.

Seit wann ist dies eine eigenständige Kategorie?
Seit sechs bis sieben Jahren. Es bürgert sich aktuell mehr ein, dass es auch Flüchtlinge ohne Religion gibt, sozusagen „Religionsfreie“.

Wie werden Geflüchtete atheistisch oder waren sie gar nicht gläubig?
Meist fängt es im Heimatland an. Sie lesen den Koran und bemerken Widersprüche. Das trifft besonders auf Frauen zu. Auch Kenntnisse über die und Sichtweisen aus der „bösen“ westlichen Welt, die mittels Internet verbreitet werden, können ein Türöffner sein. Mitunter stellen sich manche die Frage, wenn der Islam wirklich so toll und so „göttlich“ ist, warum geht es dann vielen Menschen in der islamischen Welt so schlecht. In diesem inneren Prozess der Selbstfindung entsteht eine Idee von der Enge des Glaubens.

In dem Buch ist die Rede davon, dass säkulare Flüchtlinge bedroht und attackiert werden. Wie muss ich mir das vorstellen? Und geht diese Bedrohung von allen Religionen aus?
Oft gibt es die Bedrohung im islamischen Kontext. Die Geflüchteten in Deutschland sind fast alle aus islamischen Ländern wie Ägypten, Irak, Iran, Bangladesch, Mauretanien, Pakistan, Saudi-Arabien. Sie sind oft hoch gebildet, haben durchaus gute berufliche Perspektiven und fliehen nicht vor Armut. Sie fliehen vor dem Verbot ihres Atheismus, aufgrund ihrer religiösen Zweifel sind sie zur Flucht gezwungen.

Wie verhalten sich christliche Flüchtlinge gegenüber ex-christlichen Flüchtlingen?
Da ist mir nichts Negatives bekannt. Das spielt meines Wissens keine Rolle.

Wird der Status „säkular“ erfasst oder nicht?
Formal ja, faktisch nein, weil es diese Zuschreibung gibt, dass Flüchtlinge eine Religion haben.

Gibt es mehr Frauen oder mehr Männer bei den säkularen Geflüchteten?
Nach meiner Erfahrung sind es etwa zur Hälfte Frauen und Männer. Allerdings spielt bei Frauen die Unterdrückung aufgrund des Geschlechts eine größere Rolle, es reicht ja schon, wenn sie kein Kopftuch tragen wollen. 

Wer kümmert sich um säkulare Flüchtlinge, wer ist ihre Anlaufstelle und gibt es Angebote?
Die Realität ist bitter: Atheistische Flüchtlinge erhalten kaum Unterstützung; auch nicht in Einrichtungen für Flüchtlinge. Wenn sie von anderen Flüchtlingen verprügelt werden oder ein Messer an die Kehle gehalten bekommen, werden solche Grausamkeiten paternalistisch schnell auf „deren Kultur“ und „Tradition“ reduziert. Das Problem des Kulturrelativismus ist auf Seiten der Flüchtlingshelfer:innen verbreitet. Viele Mtarbeiter:innen in der Flüchtlingshilfe haben zudem Angst um den Ruf ihrer Einrichtung.  Die säkulare Flüchtlingshilfe ist der erste organisatorische Versuch, diese Leerstelle anzugehen.

Wie bist Du zu dem Thema gekommen?
Ich setze mich kritisch mit Islam und Islamismus auseinander und lernte dann säkulare Geflüchtete kennen.

Wie reagieren die traditionellen Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl? Die NGOs, die Flüchtlinge unterstützen, sind oft christlich (mit-) geprägt.
Sie reagieren tendenziell mit Zurückhaltung. Es ist ihnen meist unangenehm und sie möchten den Konflikt weder benennen, noch sich darauf einlassen, vielleicht auch aus Angst, dann als „rassistisch“ kritisiert zu werden.

Was müsste geschehen, damit der Untertitel des Buches „Als hätte ich mein Heimatland nicht verlassen!“ überflüssig wird?
Es muss in der Flüchtlingshilfe eine konsequente Durchsetzung von Menschenrechten geben.
Religionsfreiheit, Gleichheit der Geschlechter und sexuelle Selbstbestimmung sind für Geflüchtete in Deutschland oft außer Kraft gesetzt.

Was bedeutet das strukturell und politisch?
Geflüchtete müssen immer wieder kommuniziert bekommen, dass „bei uns“ die Menschenrechte gelten und dass es für sie keinen Glaubenszwang gibt. In der Ausbildung und Schulung von Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Flüchtlingen sollte vermittelt werden, dass einige aus religiösen Gründen geflohen sind. Religionslose Geflüchtete haben selbstverständlich das Recht auf Religionsfreiheit und körperliche Unversehrtheit. Es ist bitter, wenn sie hier in Deutschland wieder derselben Unterdrückung unterliegen wie in ihrem Herkunftsland und der Fluchtgrund hier weiter besteht. Diese Herangehensweise sollte sich auch bei der Genehmigung von Projektgeldern widerspiegeln. Ziel muss es sein, dass Säkularismus als Fluchtgrund anerkannt wird und der Mythos in die Tonne getreten wird, dass Flüchtlinge per se muslimisch seien. Säkulare Flüchtlinge müssen in der öffentlichen Debatte mehr Gewicht und Sichtbarkeit bekommen, zumal wenn sie sich für die Einhaltung von Menschenrechten engagieren. 

Das Interview führte Roland Röder, Aktion 3.Welt Saar

 

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