"Ein Jahr nach dem Massaker des 7.Oktobers möchten wir zu einer explizit antifaschistischen und feministischen Kundgebung laden, um unserer geteilten Trauer Raum zu geben – Trauer über die seither verlorenen und entführten Leben, Trauer über antisemitische Entgrenzung, den Status Quo des Kriegszustandes, allgemein Trauer über die Zukunftsverfinsterung des letzten Jahres." Was wir hier lesen, ist nicht die Einladung zum "Ravensbrück Retreat für Frauen" 2024. Das hat bereits im Juni dieses Jahres stattgefunden. Im Begleittext zu dieser Veranstaltung die, inspiriert durch die »Auschwitz-Retreats« einer buddhistischen Sekte, stattfand, hieß es: "Bei dem Retreat wird es weniger darum gehen, Antworten zu geben, als vielmehr, den Fragen in ihrer Vielschichtigkeit nachzugehen und uns ihnen auszusetzen. Wir werden uns mit dem konfrontieren, was uns Angst macht und was wir sonst wegschieben und verdrängen."
Wer einen Text liest und auf die Idee kommt er wäre beim Buddhismus gelandet, der denkt nicht an ein Papier der Antifa oder der radikalen Linken. Wütend sind die Texte linker Gruppierungen, denn wütend sind die Autor*innen dieser Texte und diese Wut sollen auch die Leser*innen empfinden. Und der Prolet, die Putzfrau, kurz die geknechteten Massen, die sollen es auch lesen und sich dann erheben um die alte Ordnung, das Schweinesystem, hinwegzufegen.
Nun kann man den Schreiber*innen des Aufrufs „Für das Leben, gegen den Tod“, die uns am Jahrestag des Hamas-Massakers unter ihrem Banner (und nur ihrem Banner) auf der Straße versammeln wollen zumindest zugutehalten, dass sie das Wort nicht an die geknechteten Massen richten. Dafür sind Organisationen wie die Interventionistische Linke zuständig und das wissen die Autor*innen dieses Aufrufs auch. Aus diesem Grund konzentriert sich unsere Kritik auf etwas anderes, nämlich den Inhalt und die Tonalität des Aufrufs.
In bedeutungsschwanger aufgeladenem Ton wünschen sich die Verfasser*innen, die Möglichkeit - auch gerne im Kollektiv - um tote Juden zu trauern. "Zunächst ...", so denkt der durch die Lektüre von Eike Geisel und Wolfgang Port geschulte Antideutsche, "... ist das ja ganz natürlich. Da wollen Deutsche eben kollektiv um tote Juden trauern."
Doch diese Einschätzung würden die Aufrufenden von sich weisen. Antifaschist*innen sind sie und keine Bürger, die einfach gerne an einer Kranzabwurfstelle stehen, Toten gedenken und Stolpersteine abfeudeln. Und dennoch: Wo es früher hieß: "Die Toten mahnen uns!" da heißt es jetzt: "Für was in all dem kein Platz bleibt, ist Trauer." Anstatt die Auseinandersetzung mit Antisemit*innen, auch im Faustkampf, zu suchen, suchen sie die Auseinandersetzung mit sich selbst und ihren Gefühlen.
Wie fühlt es sich an, um das verlorene Leben zu trauern? Die monatlichen Mahnwachen am Weinbergpark, der Hostage-Square am Bebelplatz und auch die Demo direkt am 9. November 2023 boten die Gelegenheit zu trauern - ja, waren dafür gedacht und dennoch will man sich jetzt dafür den Raum nehmen. Man impliziert man wäre der erste Personenkreis, der auf diese famose Idee gekommen wäre. Der Raum zum Trauern soll vor dem Bethanien sein. Im traurigsten aller Berliner Bezirke, in Kreuzberg. Hier wo eine Antifakundgebung weniger auffällt, als eine rote Nelke auf der Rosa Luxemburg Demo, nimmt man sich den Raum, um zu trauern. Dieser Aufruf zeigt, wieviel Frank-Walther Steinmeier und die Antifa gemeinsam haben. Es wird gemenschelt auf Teufel komm raus.
Die Linke - auch die antifaschistische, auch in Deutschland - hat versagt. Die feministische Bewegung hat geschwiegen. Der 7.10. und die Folgen werden im Aufruf zwar zutreffend als "antisemitische Entgrenzung" benannt. Wer aber auf einen akuten Exzess antisemitischer Gewalt mit Trauer, anstatt mit Maßnahmen diesen zu beenden, reagiert, hat nicht begriffen was Antisemitismus ist. Die Forderung am Ende des Textes: "...islamistischen wie faschistischen Kräften den Kampf anzusagen, ihren Vormarsch zurückzudrängen" wird zur hohlen Phrase.
"Was ist mit dem Versagen der Linken? Mit dem Verrat der Genoss*innen? Was ist mit dem Applaudieren oder dem Schweigen über die Gräuel der Islamisten? Was ist mit Israel!?" möchte man den Demonstrierenden zurufen. "Ist die Existenz dieses Staates nicht der Unterschied ums Ganze? Ist Israel für die Juden nicht das Versprechen darauf, dass wenn etwas wie am 07.10. geschieht, alles dafür getan wird, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen?" Israelis wurden ermordet und fallen im Kampf gegen die islamistische Barbarei an der Front in Gaza und im Libanon, zur Verteidigung der jüdischen Gemeinschaft in Israel. Andere mussten fliehen aus ihren Häusern, sie verloren ihr Sicherheitsgefühl, ihren Halt und ihren Besitz. Juden auf der ganzen Welt wollen lieber ihre Heimat verlassen, in der Frieden herrscht und nach Israel ziehen, weil sie dort, trotz des Kriegs, sicherer sind als in ihren Heimatländern. Dazu findet der Aufruf keine ernsthaften Worte.
Auf nichts davon finden diese Linken eine Antwort mit diesem esoterisch anmutenden Text, den man mit einem Sternenhimmel bebildert - wo doch der Iron Dome das ist, was jüdisches Überleben überhaupt ermöglicht. Man könnte über das verlorene, sinnlos dahingeschlachtete Leben in Zorn geraten! Der Wut über die, die sich ermutigt fühlen ihrem Antisemitismus freien Lauf zu lassen und weltweit Juden beschimpfen, belästigen und angreifen. Wut, über die Aufklärungsverräter, die die Teheran-Proxies überall feiern! Zeit zum Trauern hatten wir ein Jahr lang! Sich zunächst auf die Trauer einzulassen ist natürlich. Sich nur auf dieses Gefühl zu konzentrieren und die praktische Konsequenz, den nächsten Schritt – die anhaltende praktische Gefahr zu adressieren – auszuklammern, ist nichts als Selbstmitleid! Es ist Zeit sich zu wehren und dem Terror, dem Hass etwas entgegenzusetzen!
Doch allein der Wunsch, den Abend frei von der Fahne des Staates Israel verbringen zu können (als Ablehnung von "Nationalflaggen" verbrämt) macht eines deutlich: Um die Bekämpfung des Antisemitismus geht es hier überhaupt nicht. Wer wurde angegriffen? Wer muss verteidigt werden? Wem muss man den Kampf ansagen? All das spielt keine Rolle. Bündnispolitik und der Wunsch nach Gruppenmief sind die Motivation.
Was am 8. März funktioniert hat, den Leuten eine Demo ohne nervigen Bekenntniszwang zu Gaza (aber eben auch ohne die verfemte Nationalfahne des Staates Israel) anzubieten, will man jetzt wiederholen. Das Aufgehen in der linken Masse als "antisemitismuskritisches"* Angebot. Denn mit einem derart indifferenten Aufruf kann man auch wieder dahin zurück, wo es das rebellische Herz einst hinzog: Nach Kreuzberg - zur deutschen Linken. Dort kann man dann - im Gruppenwettstreit, zunächst noch mit der israelsolidarischen Szene, perspektivisch aber mit IL, Ums Ganze und Co. - seinen unique selling point feilbieten. Wer wieder dorthin zurückkehren möchte, kann das tun. Eine Unart ist es allerdings, andere damit zu behelligen, weil es einem irgendwie unangenehm ist.
*Antisemitismus kann man nicht kritisieren, man kann ihn nur bekämpfen. Antisemitismuskritisch soll wissenschaftlich und reflektiert klingen, aber sagt nichts aus. Die Linke würde sich auch niemals als faschismuskritisch bezeichnen.
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