Obwohl Antisemitismus zentraler, allgegenwärtiger Bestandteil der Ideologie und Agenda der AfD ist, wird er von deren Gegnern kaum thematisiert. In Statements, Demoaufrufen oder Kundgebungsreden unter dem Motto »No AfD« werden Rassismus, Queerfeindlichkeit, Antiziganismus und andere die Partei prägende Formen der Menschenfeindlichkeit klar benannt – Antisemitismus aber fehlt in vielen dieser Aufzählungen entweder völlig oder wird, wie bei einer Pflichtübung, in einem Nebensatz erwähnt. Nur in wenigen Arbeiten, die die Geschichte und Politik der AfD analysieren, wird er bisher angemessen behandelt.
Stefan Dietl, Gewerkschafter und Autor von »Die AfD und die soziale Frage«, schließt diese Lücke mit seinem neuen Buch »Antisemitismus und die AfD«. Er untersucht die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Partei, denen er jeweils eigene Kapitel widmet. Dass dabei klassische Formen des rechten Antisemitismus besonders ins Auge fallen, ist keine Überraschung. Geschichtsrevisionismus, die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen und Schlussstrichforderungen gehören zum Geschäft, wenn man wieder stolz sein will auf ein vom »Schuldkult« befreites Deutschland, das endlich seine Führungsrolle in der Welt zurückgewinnen soll. Da stören prominente Vertreter jüdischer Organisationen, die den Finger in die Wunde legen. Dass sie als Feinde markiert und ins Visier genommen werden, liegt auf der Hand.
Verschwörungserzählungen
Kennzeichnend sind ebenso die bekannten, als Weltdeutungsmuster dienenden antisemitischen Verschwörungserzählungen in ihren modernisierten Varianten. »Globalistische Eliten« werden als Drahtzieher der Weltpolitik halluziniert, die das eingeborene deutsche Volk durch einen »großen Austausch ersetzen« wollen. Personifiziert werden diese »Eliten« beispielsweise im aus Ungarn stammenden jüdischen Multimilliardär und Philanthropen George Soros, der in dieser Funktion weitgehend das alte Feindbild der Rothschilds abgelöst hat. Als wichtigster Katalysator des verschwörungsideologischen Antisemitismus diente in den letzten Jahren die Corona-Pandemie, die zum bewussten Manöver zwecks Versklavung der Menschen umgedeutet wurde. Dass solches Verschwörungsdenken in tödliche Gewalt umschlagen kann, daran erinnert der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019.
Völkischer Antikapitalismus
Eng verwoben mit dieser Drahtzieherideologie ist der völkische Antikapitalismus des Höcke-Flügels der Partei. Dessen antikapitalistische Rhetorik hat nichts mit einer Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Die Völkischen personifizieren, wie es auch manche Linke tun, deren Erscheinungsformen. Die Übel des Kapitalismus lasten sie einzig dem jüdisch konnotierten »raffenden« Finanzkapital bzw. dessen Vertretern an und stellen ihm das gute, »schaffende« deutsche Kapital gegenüber.
Dem völkischen Teil der Partei wird oft der neoliberale, marktradikale gegenübergestellt, der staatliche Eingriffe ablehnt. Dieser Anti-Etatismus ist aber, wie Dietl zeigt, keineswegs egalitär oder antiautoritär, denn er bezieht sich ausschließlich auf das Marktgeschehen. Damit der freie Markt im Sinne sozialdarwinistischer Überausbeutung funktionieren kann, ist ein starker Staat notwendig, der die Rechte von Gewerkschaften und Arbeiter:innen einschränkt oder im schlimmsten Fall außer Kraft setzt – wie einst beim Putsch von Pinochet in Chile. Hier nivelliert sich der Unterschied zum offen faschistischen Flügel, wobei die personellen Übergänge eh fließend sind. Verschwörungserzählungen sind auch bei den Marktradikalen impliziert: Wenn in Krisen die »unsichtbare Hand des Marktes« versagt, müssen Schuldige gefunden werden.
Christlicher Antisemitismus
Nicht überraschend ist Dietls Befund, dass christlich-fundamentalistischer Antisemitismus wesentliche Teile der AfD prägt. Die demonstrativ von christlich-fundamentalistischen Kreisen gezeigte Solidarität mit Israel steht dazu nicht im Widerspruch. Im Gegenteil. In der Vorstellung religiöser Fanatiker geht beides gut zusammen: Wenn sich alle Juden einer ansonsten judenfreien Welt in Israel versammelt haben, wird der christliche Messias wieder erscheinen. Dann müssen sich die Juden entscheiden, ob sie ihn anerkennen. Das Judentum verliert seine Existenzberechtigung.
Israelbezogener Antisemitismus
Entgegen dem von der AfD gepflegten und von ihren Gegnern meist für bare Münze genommenen israelfreundlichen Image, spielt der israelbezogene Antisemitismus in der Partei eine erhebliche Rolle. Nicht nur gibt es, wie Dietl zeigt, einflussreiche Mitglieder, die sich um die erwünschte Außenwirkung nicht scheren und offen israelfeindlich auftreten. Die nach Außen zur Schau getragene Israelfreundlichkeit ist instrumentell: Man glaubt, den jüdischen Staat für den eigenen Hass gegen Muslime einspannen zu können. Der hiesige Antisemitismus wird anderen in die Schuhe geschoben und auf einen muslimischen, »importierten« Antisemitismus reduziert. Auf internationaler Ebene hat die AfD keine Berührungsängste mit islamischen Antisemiten. In der Bundestagsfraktion gibt es zahlreiche Lobbyisten des auf die Vernichtung Israels zielenden iranischen Regimes. Zeitweilig hatte die AfD die deutsch-iranische Parlamentariergruppe übernommen, die dann für eine regimefreundliche Politik eintrat. Ebenso wurde das Assad-Regime von AfD-Politikern hofiert. Die Opfer des Pogroms vom 7. Oktober 2023 bezeichnete der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla verharmlosend als »Kriegstote«.
Dietl hat einen lesenswerten Überblick über den Antisemitismus in der AfD geschrieben. Vielleicht trägt er dazu bei, dass zukünftig in Statements, Demoaufrufen und Kundgebungsreden der Antisemitismus der AfD klarer benannt wird.